Die „normale“ Brennweite

Ein Gastbeitrag von Adrian Ahlhaus

Gastbeitrag
Ein Gastbeitrag von Adrian Ahlhaus

Im Maßstab der Entwicklungen in der digitalen Fototechnik liegt es ewig weit zurück, mindestens 10 Jahre, dass die fotografierenden Zeitgenossen sich jener Kameras bedienten, die als Brennweite ein Normal-Objektiv hatten und sonst nichts. Angesichts der mittlerweile selbstverständlichen Möglichkeiten scheint das eine enorme Einschränkung gewesen zu sein. Ja, das war es. Mit der digitalen Technik kam zuerst die Entdeckung der Makroaufnahmen, die ohne Wechsel eines Objektives möglich waren, danach wurde das Fotografieren mit Telebrennweiten populär und jeder wollte Digitalkameras mit möglichst langen Brennweiten. Derzeit sind die mit weiten Bildwinkeln aufgenommenen Fotos der aktuelle Trend. Die entsprechenden Digitalkameras stoßen auf ein breites Interesse. Die normale Brennweite scheint vollkommen aus dem Blick. Braucht man so was? Keine Kamera, gar keine, informiert über den normalen Bildwinkel. Dass es irgend etwas zwischen den Brennweiten für Weitwinkel und Tele geben kann, das liegt nahe. Doch es ist ein sachlich wie sprachlich unbekanntes Land. Kein Interesse darauf einen Blick zu werfen?

Goethe war es, der als Naturbeobachter mit der Sicht des Phänomenelogen sich fragte, was denn der normale Sehwinkel des Menschen sei. Man kann den Sehwinkel in den technischen Begriff des „Bildwinkels“ übersetzen, denn tatsächlich wird im Auge, von der Linse in der Pupille, ein Bild projiziert. Je nach Entfernung wird diese Linse gespannt oder entspannt und erzeugt ein scharfes Abbild auf dem Augenhintergrund, der Netzhaut, das die Sehnerven anregt, die Signale an das Gehirn senden. Der Sehwinkel bleibt immer unverändert. Das menschliche Auge hat „nur“ eine Brennweite.

Eine ganz einfache Vorstellung um den normalen Sehwinkel wie auch die normale Brennweite zu erklären, ein Modell, ist es dass Strahlen durch eine Linse fallen. Stark vereinfacht und anders als in der Wirklichkeit gehen diese als gerade Linien durch das Glas der Linse. Liegt ein Objekt nahe des Unendlichen entfernt, zum Beispiel die Sonne, dann werden diese Lichtstrahlen auf einem Punkt gebündelt, dem Brennpunkt. Der Brennpunkt ist abhängig von der Krümmung der Linsen. Stärker gekrümmt ist der Brennpunkt näher, bei schwach gekrümmten Linsen weiter entfernt. Dahinter liegt ein Bildsensor, der ein bestimmtes Format hat. Die Strahlen auf die Linse fallen auch seitlich ein und gehen hinter der Linse vom Mittelpunkt aus in gleichen Winkeln auseinander auf den Bildsensor zu. Und ab hier kommt der natürliche Sehwinkel in das Modell hinein.

Goethe wusste, dass der Mensch einen nicht gleichmäßigen Sehwinkel hat, nach oben und unten unterschiedlich viel sieht als in der Breite. Dazu kommt, dass das scharfe Sehen auf einen engen Bereich von etwa 3 Grad beschränkt ist, während drumherum eine sehr breite Zone des unscharfen Sehens liegt. Es reich aus um Bewegungen und andere Auffälligkeiten wahrzunehmen und so den scharfen Blick darauf richten zu können. Nun mittelte er die Sehwinkel von Höhe und Breite und die scharf sehenden und unscharfen Bereiche zu einem Sehwinkel von etwa 50 Grad. Das ist der normale Sehwinkel. Jeder Mensch sieht also mit diesem natürlichen Sehwinkel und nimmt so die Umgebung war. Was sehr groß ist kann nur dann mit einem Blick erfasst werden, sobald man zurücktritt. An einer modernen Kamera verändert man die Brennweite in die Richtung eines Weitwinkels. Doch dabei verliert sich auch der natürliche Eindruck, den wir Menschen von den Objekten kennen, denn nun treten wir eben nicht zurück. Es bedeutet in der Sprache der Fotografie: der perspektivische Eindruck verändert sich. Das ist das Verhältnis von nahen und fernen Objekten im Bild. Nahe liegendes erscheint nun übertrieben groß und fernes wirkt unnatürlich klein. Doch ist dieser Effekt ein dem Abstand angemessener Eindruck, der sich durch den unveränderten Standort ergibt. Um den Eindruck einer natürlichen Perspektive im Foto zu erreichen, müsste man zurücktreten auf einen Standpunkt, der auch eingenommen würde, wenn man ohne Kamera auf ein großes Objekt sehen würde. Also, die Perspektive ist zwar richtig, wenn wir nicht zurücktreten, entspricht aber nicht dem des natürlichen Seheindrucks, wie wir ihn von Kindheit an kennen. Deshalb heißt es in der Fotografie: Verändert man für eine Aufnahme den Standort (die Entfernung), dann verändert man auch die Perspektive.

Um das Ganze in Worten zu fassen bedient man sich des Vergleichs mit der Technik. Ein breiter Bildwinkel heißt Weitwinkel. Ein engerer Bildwinkel wird den modernen Objektiven entsprechend als Tele bezeichnet. Zurück zu unserem Modell von Linse und Bildsensor. Geht der kreisrunde Bildwinkel deutlich über den Bildsensor hinaus, dann wird nur ein engerer Bereich des projizierten Bildes erfasst und aufgenommen. Es ist ein Ausschnitt des möglichen Bildes. Dies entspricht einer langen Brennweite, die in der Tat nur einen Ausschnitt liefert. Bei der Konstruktion eines Objektives mit verkürzter Bauweise, dem Teleobjektiv, das häufig deutlich kürzer ist als seine längste Brennweite, wird allerdings kein übergroßer Bildkreis erzeugt, sondern nur der dem Bildsensor entsprechende Ausschnitt von weniger als 50 Grad projiziert, zum Beispiel von 23 Grad.

Bei einem Weitwinkel ist es umgekehrt. Zwar wäre auch hier der Bildwinkel größer als 50 Grad und der Bildkreis würde deutlich über den Bildsensor hinaus reichen. Doch hier wird nun der gesamte Bildwinkel durch zusätzliche Linsen so weit verkleinert, das der Bildkreis vollständig auf den Bildsensor passt. Dazu sind zusätzliche Linsen notwendig. Es wird nun kein Bildwinkel sondern eine Verkleinerung auf den Bildsensor projiziert. Dabei kann die Brennweite in Analogie zum Bildwinkel gesetzt werden. Eine kurze Brennweite hat einen weiten Bildwinkel, eine lange Brennweite einen engen Bildwinkel. Dabei stehen die Angaben in Millimetern in Beziehung zum Format des Bildsensors. Beispielsweise ergeben für eine Digitalkamera mit kleinem Bildsensor die Brennweiten von 50 mm bereits ausgesprochen enge Bildwinkel und für eine Kleinbildkamera ist es eher im Bereich eines normalen Bildwinkels.

Um bei der Fotografie die perspektivischen Verzerrungen bewusster einsetzen zu können, ist es hilfreich einige Zeit und möglichst viele Fotos mit nur einer einzigen Brennweite zu machen. Sinnvollerweise wäre dies die Brennweite, die dem natürlichen Seheindruck nahe kommt. Dabei kam man sagen, das dieser natürliche Seheindruck entsteht, wenn die Brennweite der Diagonalen des Aufnahmeformates von Film oder Bildsensor nahe kommt. Beim Kleinbildformat mit 24 x 36 mm wäre dies eine Brennweite von rund 43 mm. Bei kleineren Bildformaten müssten die entsprechenden Brennweiten kleiner sein. Bei einem APS-C Format entspricht es gerundet 28 mm (Faktor 1,5) oder 27 mm (Faktor 1,6). Jene Digitalkameras mit einem Bildsensor im Format von 1/1,8'' haben eine normale Brennweite von rund 9 mm, die der 1/2,5'' großen (kleinen) Bildsensoren haben eine Bilddiagonale von 6,4 mm. Dem entsprechend ist die normale Brennweite.

Da Kameras auf den Displays üblicherweise keine konkreten Angaben zur gewählten Brennweite machen, es gibt eine Balkenanzeige, so muss man mit Probeaufnahme und dem anschließenden Auslesen der EXIF-Daten probeweise ermitteln, bei welcher Höhe der Balkenanzeige man einer normalen Brennweite nahe kommt. Und nun fotografiert man mit dieser normalen Brennweite einfach alles. Man kommt in Bewegung. Ein paar Schritte vor oder zurück werden üblich. Es gibt aber auch die Erfahrung, das man einen natürlichen Abstand zu Personen einhält, der als normale Perspektive empfunden wird. Und wird dieser Abstand verändert, dann verformen sich die Gesichter perspektivisch, wie dies für alle Motive zutrifft – aber dies zu sehen, das muss man erst lernen. Richtigerweise muss man sogar sagen, das ein perspektivischer Eindruck auch etwas mit dem späteren Bildformat zu tun hat. Wer nur 10x15 cm große Papierbilder in Händen hält, hat einen anderen Eindruck von einer Perspektive als jemand, der oder die vor einem Plakat steht.

Gastbeiträge enthalten die Meinung des jeweiligen Autors und spiegeln nicht die Meinung von dkamera.de wieder.

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